Bundestagswahl: So funktionieren Direktkandidaturen

Von den acht Direktkandidaten im Wahlreis Rhein-Erft-1 (91) selbst zur Verfügung gestellte Fotos: Dierk Timm (SPD), Zeki Gökhan (Linke), Rüdiger Warnecke (Bündnis 90/Grüne), Marius Hövel (Piraten), Christian Pohlmann (FDP), Dr. Georg Kippels (CDU), Tevfik Çelikkan (parteilos), Franz Pesch (AfD)

Die Direktkandidaten zur Bundestagswahl 2017 in Wahlkreis Rhein-Erft I (die Kandidatenfotos wurden ausdrücklich nicht nach politischen sondern nach bildgestalterischen Gesichtspunkten angeordnet, v.l.o. nach r.u.): Dierk Timm (SPD), Zeki Gökhan (Linke), Rüdiger Warnecke (Bündnis 90/Grüne), Marius Hövel (Piraten), Christian Pohlmann (FDP), Dr. Georg Kippels (CDU), Tevfik Çelikkan (parteilos), Franz Pesch (AfD)

 

Eines ist jetzt schon ganz sicher: Der direkt gewählte Abgeordnete unseres Wahlkreises Rhein-Erft I (Wahlkreis 91) im 19. Deutschen Bundestag wird ein Mann sein. Nicht eine Frau befindet sich unter den acht Kandidaten, die um das Direktmandat der Bürgerinnen und Bürger von Bedburg, Bergheim, Elsdorf, Frechen, Hürth, Kerpen und Pulheim kämpfen. Fast genauso sicher ist, dass der Direktkandidat einer Partei gewinnt. Wer heute die meisten Erststimmen bekommt, geht nach Berlin und vertritt dort unseren Wahlkreis.

Ob noch weitere Abgeordnete aus dem Rhein-Erft-Kreis im Bundestag vertreten sein werden, hängt von deren Platzierungen auf den nordrhein-westfälischen Landeslisten ihrer Parteien ab. Aus unserem Nachbarwahlkreis Euskirchen – Rhein-Erft II (Wahlkreis 92) zum Beispiel, sitzen derzeit zwei Abgeordnete im Parlament: der CDU-Mann Detlef Seif aus Weilerswist, der vor vier Jahren das Direktmandat in seinem Wahlkreis gewann, und seine Herausforderin von der SPD, Helga Kühn-Mengel aus Brühl. Zwar unterlag sie im Kampf um die Erststimmen im Wahlkreis 92, rutschte aber über die Landesliste ihrer Partei ins Parlament.

Direktkandidaten sollen in erster Linie die Region vertreten und nicht die Partei

Und das geht so: In den 299 Wahlkreisen, in die das Bundesgebiet aufgeteilt ist, wählen die Bürger des jeweiligen Wahlkreises mit der ersten ihrer beiden Stimmen einen Kandidaten direkt in den Bundestag. So wird sichergestellt, dass jede Region in Deutschland sozusagen persönlich im Bundestag vertreten ist. Im Wahlkampf legen die Direktkandidaten daher üblicherweise viel Wert darauf zu betonen, was sie für ihre Region auf Bundesebene tun können. „Ich sehe mich als Lobbyist für den Rhein-Erft-Kreis im Bundestag“, brachte es der SPD-Direktkandidat Dierk Timm im Wahlkampf auf den Punkt. Die Wahlkreiskandidaten konzentrierten sich im Rhein-Erft-Kreis zum Beispiel besonders auf den Themenkreis Braunkohleverstromung und Strukturwandel in der Region. So betonte FDP-Mann Christian Pohlmann im Wahlkampf die Verantwortung des Bundes für die Region. Seit Jahrzehnten opfere sie sich für die Energieversorgung der ganzen Republik auf und müsse dafür beim nun anstehenden Strukturwandel besonders vom Bund gefördert werden.

Sitzverteilung innerhalb der Fraktionen: Direktkandidaten first

Die direkt gewählten Abgeordneten besetzen die Hälfte der vorgesehenen 598 Sitze im Bundestag. Die andere Hälfte der Sitze wird sozusagen mit Listenkandidaten der Parteien aus den Bundesländern aufgefüllt. Hier kommt die Zweitstimme der Wähler ins Spiel. Mit der zweiten Stimme entscheidet der Wähler über die Mehrheitsverhältnisse der Parteien im Bundestag. Jede Partei, die mindestens 5 Prozent aller Zweitstimmen im Bundegebiet oder drei Direktmandate gewonnen hat, erhält im Verhältnis zu den für sie abgegebenen Zweitstimmen Sitze im Parlament.

Zunächst ziehen die direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten in den Bundestag ein. Ihre Sitze werden auf die Sitze angerechnet, die ihre Partei insgesamt gewonnen hat. Die übrigen Sitze werden mit den Kandidaten auf den Landeslisten der jeweiligen Partei besetzt.

Haben Parteien mit Erststimmen mehr Direktmandate gewonnen, als ihnen mit Zweitstimmen Sitze zustehen – so genannte „Überhangmandate“ – wird die Gesamtzahl der Sitze im Parlament mit so genannten „Ausgleichsmandaten“ soweit erhöht, bis der Parteienproporz wieder stimmt. Wie im aktuellen Bundestag, der statt 598 Sitzen durch Überhang- und Ausgleichsmandate 630 Sitze umfasst.

Auch die Ausgleichsmandate werden an die Kandidaten auf den Landeslisten vergeben. Die Listenkandidaten und die Reihenfolge ihrer Platzierung werden im Vorfeld der Bundestagswahl auf Landesparteiebene bestimmt.

Stimmzettel im Wahlkreis Rhein-Erft 1 zur Bundestagswahl 2017

Die ersten fünf Kandidaten auf der Landesliste einer Partei werden auf den Stimmzetteln im jeweiligen Bundesland namentlich unter ihrer Partei in der rechten Spalte aufgeführt. Martin Schulz, der Kanzlerkandidaten der SPD, führt die Landesliste der SPD in NRW an, weshalb sein Name auf allen Stimmzetteln in NRW als erster unter der „SPD“ in der rechten Spalte aufgeführt ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde von ihrem CDU-Landesverband in Mecklenburg-Vorpommern auf Platz Eins der CDU-Landesliste gewählt und steht deshalb auch nur dort unter „CDU“ in der rechten Spalte der Stimmzettel. In NRW steht Hermann Gröhe an der Spitze der Landesliste der CDU. Foto: S. Neumann

Parteien haben kein Abo auf Direktkandidaturen

Über die Landesliste seiner Partei in den Bundestag zu kommen, ist für Dr. Georg Kippels eher unwahrscheinlich. Der Jurist aus Bedburg ist der Direktkandidat der CDU im Wahlkreis Rhein-Erft I und wurde von der nordrhein-westfälischen Landesvertreterversammlung der CDU zusätzlich auf Listenplatz 33 gewählt. Direktkandidaten mit einem Listenplatz abzusichern ist üblich, auch bei anderen Parteien. Für einen CDU-Mann in NRW ist Platz 33 jedoch ein wenig aussichtsreicher Listenplatz: Gewinnt die CDU dort wieder viele Direktmandate, bleiben ihr entsprechend wenige Sitze im Bundestag für die Listenkandidaten übrig. Umgekehrt haben Listenkandidaten der kleineren Parteien bessere Chancen auf einen Einzug ins Parlament, weil ihre Direktkandidaten seltener ihre Wahlkreise gewinnen.

Unterm Strich hat so mancher Wahlkreisangeordnete im Deutschen Bundestag sein Mandat wohl nur seiner Parteizugehörigkeit zu verdanken. Wähler, die den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme nicht verstanden haben, machen ihr erstes Kreuz häufig automatisch einfach bei dem Kandidaten, bei dessen Partei sie auch das zweite Kreuzchen machen.

200 Unterschriften für eine parteifreie Direktkandidatur

Dabei haben die Parteien per Gesetz eben kein Abo auf Wahlkreiskandidaturen. Tevfik Çelikkan aus Frechen hat das Bundeswahlgesetz gründlich studiert. Nur 200 Unterschriften von wahlberechtigten Bundesbürgern brauchte der 50-jährige Ford-Mitarbeiter und Familienvater, um als Direktkandidat in seinem Wahlkreis zur Bundestagswahl anzutreten zu können. Er hat sie zusammenbekommen. Ohne Partei im Rücken. Sein Name steht auf den Stimmzetteln im Wahlkreis Rhein-Erft I. Wenn auch ganz unten. Um ihm die Erststimme geben zu können, muss man den viermal gefalteten Stimmzettel ganz auseinanderfalten.

Tevfik Çelikkan am 28. 8. 17 in seinem Garten in Frechen

„Ich will Nichtwähler und Parteiverdrossene dazu bringen, wählen zu gehen“, ist das Hauptanliegen des parteilosen, freien Direktkandidaten Tevfik Çelikkan aus Frechen. Foto: S. Neumann

Tevfik Çelikkan ärgert diese Benachteiligung seiner Kandidatur. Echte Chancen hat er sich allerdings ohnehin nicht ausgerechnet. Also warum das ganze? Weil er auf dem besten Weg gewesen sei, Nichtwähler zu werden, ein Politikverdrossener, ein Parteienverdrossener. Sein Ärger über die im vergangenen März getroffene Entscheidung des Bundestages für eine PKW-Maut sei wohl der Auslöser gewesen, erklärt er rückblickend. „Irgendwann habe ich überlegt, ob ich nicht mehr wählen gehen soll. Und da dachte ich: ‚Da musst du jetzt mal die Reißleine ziehen.‘“ So kam er auf die Idee, selber Politik zu machen – und zwar ohne in eine Partei einzutreten. Eine Politik in seinem Sinne und nicht im Sinne einer Partei, der er im Sinne der Fraktionsdisziplin eine eigene Meinung unterzuordnen habe. „Wir haben so eine Parteiendominanz in den Köpfen der Menschen“, bedauert er. Dass jeder Bürger auch in den Bundestag einziehen kann, ohne Mitglied einer Partei zu sein, wisse kaum jemand.

Tevfik Çelikkans Vision: Parteilose an der Macht

Was wäre, wenn in einer nennenswerten Zahl von Wahlkreisen parteilose Direktkandidaten die meisten Erststimmen bekämen, im Extremfall in allen? Dann dominierten Parteien nur eine Hälfte des Bundestages, spinnt Tevfik Çelikkan seine Vision weiter. „Was würde sich im Bundestag ändern?“ Die parteilosen Abgeordneten müssten in alle Entscheidungen im Parlament eingebunden werden, beantwortet der parteilose Direktkandidat seine Frage selbst. „Die Parteien könnten verhackstücken, was sie wollten. Solange die parteilosen Direktkandidaten nicht involviert werden, wird nichts laufen.“ Dass so eine Vielzahl von parteilosen Abgeordneten auch eine Vielzahl von Einzelinteressen bedeuten würde, die nicht unter einen Hut zu bringen wären und jegliche Entscheidungsfindung im Bundestag verhindern würden, lässt er als Gegenargument nicht gelten. Er ist fest davon überzeugt, dass ein maßgeblicher Anteil von parteilosen Direktkandidaten im Bundestag das Interesse der Bürger an Politik und an der Demokratie beleben würde. „Das ist mein Grundanliegen: Mehr Vielfalt in der Demokratie. Ich will Nichtwähler und Parteiverdrossene motivieren, wieder wählen zu gehen. Wenn die Wahlbeteiligung weiter zurückgeht, dann haben wir irgendwann einen Trump, den nur so wenige an die Macht gebracht haben. Möchte ich nicht.“

Bliebe die Frage, wofür er sich einsetzen würde, wenn er das Direktmandat im Wahlkreis Rhein-Erft I gewänne. „Alles, was den Bürgern in der Tasche bleibt, sehe ich als positiv“, entwirft er eine Art Wahlslogan. Ansonsten bleibt er thematisch eher vage. Die Entscheidung für die PKW-Maut würde er rückgängig machen wollen, zählt er ein paar seiner Standpunkte auf. Als Abgeordneter im Bundestag hätte auch er für die Ehe für alle gestimmt. Den Ausstieg aus der Braunkohle zu Gunsten regenerativer Energien befürworte er, aber erst (oder nur), wenn die erneuerbaren Energien alle Versorgungslücken schließen könnten. Sozialer Wohnungsbau und bezahlbarer Wohnraum sei besonders dort zu fördern, wo die Preise explodiert seien. Er ist für die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen und für ein Einwanderungsgesetz. „Ich bin in der Mitte der Gesellschaft“, positioniert er sich politisch, „ich bin kein Ausreißer nach rechts oder links.“

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