„Gretchen 89ff“ im Haus am Bahndamm

"Schauspieler an sich" Sarah Heinrigs

Ausdrucksstarkes Minenspiel: Sarah Heinrigs gibt den Typ „Schauspieler an sich“.
Alle Bilder: S. Neumann

Seien Sie darauf gefasst, dass am Anfang viel gebrüllt wird. „Der Schmerzensmann“ ist der Typ Regisseur, der das Theater eigentlich hasst und die Schauspieler, mit denen er arbeiten muss, auch. Also schreit er unentwegt die arme Birgit Kowalski an, die das Gretchen in seiner Faust-Inszenierung spielen soll. Die pariert zunächst erschrocken, doch zunehmend aggressiv. Bis zum finalen Urschrei wirft sie sich brüllend nieder und kriecht kreischend über den Boden: Ein Auftakt mit Paukenschlag ist diese erste Szene in dem Stück „Gretchen 89ff“, das Thomas Hardow im Haus am Bahndamm inszeniert hat.

10 stereotype Theaterleute spielen die Kästchenszene

Danach geht es ruhiger aber keinesfalls langweiliger zu. Der Reihe nach führen die drei Darsteller Sarah Heinrigs, Bodo Lacroix und Rolf Koch insgesamt 10 Typen von Theaterschaffenden vor, die der Autor des Stückes, der deutsche Dramatiker, Regisseur und Schauspieler Lutz Hübner, ausgemacht hat. Da gib es neben dem erwähnten „Schmerzensmann“ (Rolf Koch) zum Beispiel den „Haudegen“ von Regisseur (Rolf Koch). Oder den „Freudianer“ (Bodo Lacroix), der seine Schauspielerin psychisch zu entblößen trachtet. Da gibt es „die Diva“ (Sarah Heinrigs) unter den Darstellern, den „Dramaturgen“ (Rolf Koch) und schließlich den typischen „Hospitanten“ (Bodo Lacroix), der die übrigen Akteure im Theaterbetrieb anbetet, seine Unterwürfigkeit paraphrasiert und sich dabei bemitleidenswert klein macht. Einstudiert wird exemplarisch immer die „Kästchenszene“ in Goethes „Faust I“, in der Mephisto dem Gretchen eine Schmuckschatulle unterjubelt, um das unschuldige Ding dem lüsternen Faust zuzuführen – nachzulesen im frühen und allseits bekannten gelben Reclam-Heft ab Seite 89 folgende.

Alter Haudegen (Rolf Koch mit Sarah Heinrigs)

Der Platz des Regisseurs ist im Zuschauerraum aufgebaut.

Amateurschauspieler in Bestform

„Heraus kommt ein urkomischer Blick hinter die Theater-Kulissen“, heißt es im Spielplan Herbst 2016 des Theaterensembles Harlekin, „ein komödiantisch schrill-schräger, tragisch-komischer Bilderbogen voller Skurrilität, Absurdität, Eitelkeit, menschlicher Macken, Marotten und Neurosen, der die schillernde Welt des Theaters persifliert und auf den Kopf stellt …“.

Anm. d R.: Das Versprechen aus dem Programmtext sei hier zitiert, weil die Autorin es so unterschreiben kann (sie besuchte die Generalprobe am Donnerstag). Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass die Autorin selbst eine Weile Mitglied des Harlekin-Ensembles war und ergo nicht unvoreingenommen ist.

Sarah Heinrigs

Wieder einmal hat Harlekin-Regisseur Thomas Hardow alles aus seinen Amateurschauspielern herausgeholt: Sarah Heinrigs geht in einer Szene im Klischee der angepissten Diva auf. In einer anderen reagiert sie überzeugend natürlich genervt auf die aberwitzigen Anweisungen ihres Regisseurs. Sie übernimmt – fast – immer die Rolle der Schauspielerin Birgit Kowalski, die das Gretchen darstellen soll, was ihrem Wandlungsvermögen viel abverlangt. Nicht zuletzt dank ihrer ausdrucksstarken Mimik meistert Sarah Heinrigs diese Aufgabe buchstäblich spielend.

Freudianer

Geil auf Seelenstriptease: Der Freudianer (Bodo Lacroix) mit Sarah Heinrigs alias Birgit Kowalski.

Bodo Lacroix

Bodo Lacroix versteht sein clowneskes Grinsen ebenso in Szene zu setzen wie den Ausdruck frustrierter Resignation, wenn sein Regisseurs von der Diva vorgeführt wird. Einmal tänzelt er als „das Tourneepferd“ unter den Regisseuren im Wiener Akzent plappernd um das Objekt seiner Begierde, die Schauspielerin. An anderer Stelle wird seine Figur zur personifizierten Geilheit, wenn er sie als „Freudianer“ psychisch auszuziehen versucht.

Rolf Koch

Rolf Koch amüsiert in der Rolle des „Haudegen“ mit rheinischem Akzent ebenso, wie in einer Nebenrolle als Hausmeister. Und den Eingangs erwähnten „Schmerzensmann“ gibt er so überzeugend, dass man ihn auch in Echt nicht sauer erleben möchte, so hasserfüllt ätzt er über die darstellerischen Fähigkeiten seiner Darstellerin.

Eine auf ganz wenige Requisiten reduzierte Bühne unterstreicht noch die schauspielerischen Fähigkeiten der Darsteller, weil sie die Aufmerksamkeit des Publikums immer auf die Figuren konzentriert.

Aber wie ist es denn?

Bei dem ganzen Spaß am Spiel im Spiel im Spiel eröffnet Hübners Stück dem geneigten Theaterbesucher aber auch die Erkenntnis: Die Inszenierung eines Stücks ist immer das Produkt der Persönlichkeiten, die sie schaffen. Wenn Gretchen sich – statt ein Kästchen zu öffnen -einen blauen Müllbeutel in die Vagina schiebt (Anm. d. R.: Keine Sorge, so etwas werden sie nicht sehen!), dann vielleicht deshalb, weil der Regisseur ein Problem mit seinem Freud‘schen „Es“ hat und die Gretchen-Darstellerin sich nicht traute aufzubegehren. Wie oft hört man im Theater vor einer Vorstellung den seufzenden Wunsch: „Hoffentlich spielen sie es so, wie es ist!“ Aber: Wie ist es denn?

Spieltermine:
Samstag, 17.09. (Premiere), 01.10., 08.10., 15.10., 22.10., 29.10., 05.11. (Derniere), jeweils 20 Uhr,
Sonntags, 18.09., 25.09., 02.10., 09.10., 16.10., 23.10., 30.10. und Montag, 03.10. jeweils 18 Uhr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert